Reise durch Wirklichkeiten

Freitag, 18. November 2022

Befreit?

Ob wir das Freiheit nennen sollten? Da ist beispielsweise die Entscheidung, wo jemand sich beerdigen lassen will, zu welcher Gemeinschaft er sich dadurch bekennen oder nicht bekennen will: es gibt also eine Wahl, der sich ein modernes Individuum überall stellen muss. Nicht mehr die Tradition organisiert ein Leben. Dadurch wird keine bestimmte und relativ genau definierte Rolle mehr angeboten, sondern Individuen müssen ständig selbst entscheiden, wer und was sie denn in welchem Zusammenhang sein wollen. Dazu sind wir befreit, aber auch verdammt und verurteilt. Jeder muss sich selbst zu einem „Projekt“ machen, wodurch auch das Risiko des Scheiterns dramatisch steigt. Mutmaßlich hat man unendlich viele Wahlmöglichkeiten, wodurch sich das eigene Leben aber als fortwährend begrenzt erweist. Dies zieht natürlich entsprechende Frustrationen nach sich, was die sogenannte „Frustrationstoleranz“ immer wichtiger werden lässt. Es geht bei diesem Begriff darum, gewisse Fehlschläge in mannigfacher Hinsicht verkraften zu können, mit Bedürfnisverweigerungen von Seiten der Umgebung zurecht zu kommen und die Schere zwischen dem, was man hätte erreichen können, und dem, was man erreicht hat, besser aushalten zu können. Aber auch das Bedürfnis nach Sinnfindung ist allgegenwärtig. Sinn wird dabei vor allem im persönlichen Bereich gefunden, unter anderem in einem sehr individuell angelegten Glauben an Werte und Normen, der als individuell veränderbar und meinem Profil anpassbar erscheint. Gleichzeitig wächst aber auch der Druck, etwas aus seinem Leben machen zu müssen. Ein Leben in Sicherheit? In mir angemessenen Formen? Ob meine Kraft dafür ausreicht? Wie kann ich angesichts dessen bestehen? Was wird aus mir und wann werde ich es? Wie kann ich mich möglichst optimal entwickeln? Menschen am Anfang ihrer bürgerlichen Existenz und ihres nach einer Initiation wahrgenommen Lebens müssen Antworten ganz alleine finden. Dabei wächst das Bedürfnis nach einem Orientierungsrahmen, einer Vorgabe von außen, die klare Richtungen weist. Selbstbestimmung erweist sich insofern auch als dauernde Last, wird zu einer Aufgabe, der jemand ständig nicht genügt. Orientierung und Reduzierung der Unübersichtlichkeit des Lebens ist gefragt: Freunde und Familie sind hierzulande in diese Rolle der Beratungsinstanz geschlüpft, die anderswo die Religion ausfüllt.

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