Reise durch Wirklichkeiten

Dienstag, 1. November 2022

Kanäle bohren

Ich lebte in einer Welt, in der ich nach einem Regen draußen auf dem Hof mit kleinen Stöckchen oder ganz direkt mit den Fingern stundenlang lauter kleine Kanäle bauen konnte, deren Rand ich jeweils sehr kunstvoll erhöhte und die ich nach einem geheimen, nur mir bekannten Plan, beständig veränderte. Diese Kanäle standen zueinander in einer Ordnung, die ich, nur ich bestimmte. Ich? Immer nur ich. Wer war ich? Diese Frage war nur dann quälend, wenn ich auf meinem Mauervorsprung saß, ganz am Rande des Gartens und wieder einmal grundlos und ganz alleine in mich hineinbrütete. Wenn mir bewusst wurde, wie alleine ich war und wenn ich ahnte, wie alleine ich immer sein würde. Das schöne Selbstmitleid. Es war zum Heulen und eine ungute Brutstätte des Autismus. Anfang davon, dass ich glaubte, mir ginge die Zeit aus. Aber ich hatte damals ja Zeit. Das alles war kein wirkliches Problem. Die Lösung dieser Fragen sollte irgendwann noch zu finden sein. Der Horizont war offen. Stundenlang und sprachlos, nur für mich, drückte ich draußen auf dem Hof komplette Kanalsysteme in den Boden, schuf im Dreck ein System der verspielten Umleitungen. Es gab sehr sinnvoll angelegte Rückhalte- und Überlaufbecken. Man konnte zusehen, wie sich der Dreck, den man kurz zuvor bearbeitet hatte, langsam setzte, um sich schließlich in ein Becken mit klarem Wasser zu verwandeln. Es gab auch Inseln inmitten dieser klarer Seen, die man gerne zu Trutzburgen hätte ausbauen wollen. Sie verwandelten sich flugs in verwunschene, dreckfarbene Wasserschlösser und trugen ihren Sinn minutenlang in sich.

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