SCHRITTE
Er geht weiter, federnden
Schrittes, unter grauen Himmeln, den alltäglichen Vorzeichen seines
Daseins. Aus der Ferne tönt eine Sirene, die vielleicht irgendeinen
Ernstfall simuliert, und hinter ihm liegt eine Strecke, an deren
Ausgangspunkt er sich nur manchmal in den Augenblicken der Dämmerung
erinnern kann. Die weißen Markierungsstriche auf der Straße hatten
einmal die Aufgabe, Orientierung zu bieten. Sie sind nun aber
verblasst und schwer zu erkennen. Er gönnt sich den bescheidenen
Spass, sie im Slalom immer wieder zu umgehen und dabei nicht auf sie
zu treten, was ihm Zerstreuung und Ablenkung von der Tatsache bietet,
dass er alleine ist. Seine gleichförmigen Bewegungen werden immer
wieder unterbrochen von kleinen Unregelmäßigkeiten, bedingt durch
Unebenheiten der Straße, durch Nervositäten, Unaufmerksamkeiten.
Rechts und links der Straße erstrecken sich weite Felder,
flurbereinigte, kultivierte, chemisch gedüngte Anbauflächen,
Nutzungsgebiete, die, so will es ihm scheinen, für ihn gerade in
ihrer geometrischen Anonymität wirklich sind.
Die Zwecklosigkeit seines
Wegs entspannt ihn innerlich, er gibt sich der Bewegung hin – und
nur ihr. Er versucht, sich innerlich zu leeren. Fetzen einer
vielleicht vorgestern gehörten Melodie vermischen sich mit Eigenem,
aus dem Moment Entstandenen. Ansonsten will er sich nicht erinnern,
er baut geradezu Mauern auf gegen alles, was aus der Vergangenheit
einbrechen will in sein augenblickliches Idyll. Stattdessen versucht
er , sich sein Gesicht vorzustellen...jetzt,...gerade jetzt...und nun
wieder....eine Konzentrationsübung mit Selbsterfahrungswert! Seine
Schritte durchschreiten fünf Minuten, als wären sie
Sekundenzeiger einer Quartzuhr. Es geht leicht bergauf und seine
Beine lösen die gestellte Aufgabe ohne ihrem Benutzer auch nur ihre
Existenz ins Bewusstsein treten zu lassen, sie funktionieren.
Es ist Rhythmus zu
erkennen in dem, was er tut. Eine Struktur, die ihm etwas bedeutet,
über der er gleichwohl bescheiden geworden ist. Diese
wiederkehrenden Regelmäßigkeiten geben Sicherheit, betäuben Angst.
Die Luft ist zu spüren, die rohe Erde zu
riechen, es fängt langsam an zu regnen. In einiger Entfernung ist
ein verwilderter Hain zu erkennen und er ist erstaunt darüber, dass
sich Derartiges hier noch halten konnte. Erinnerung trifft ihn: an
andere Zeiten, andere Orte, Gegenden, von denen er gehört hat.
Der Hain ist belebt,
bildet hier eine Enklave in seiner Wildheit und Unberührtheit, was
ihn fast wie einen Magneten anzieht. Eine Ganze Welt verspricht sich
hier an diesem Stückchen Erde, bewachsen mit seltenen, nie gesehenen
Pflanzen. Dazwischen glaubt er Kristalle zu erkennen, funkelnd in
allen Farben. Plötzlich erstrahlt der Hain, er wird zusehends
durchsichtiger, gläsern, illuminiert von Mannigfaltigen
Lichtkaskaden...aber auch Gerüche gehen von diesem Hain aus, wie
betäubend!...Musik dringt aus dem Gesträuch, Harmonien, die Töne
auf solche wunderbare Weise zueinander führen und miteinander
versöhnen, dass alles bisher Gehörte nur ein Entwurf zu dieser
Harmonie gewesen ist: sie hat alles in sich aufgenommen! Alles!
Kleine Tiere kriechen, sich fortwährend verwandelnd, durch das
Gezweig, ohne jemals eine feste Gestalt anzunehmen. Zuweilen sehen
sie Menschenähnlich aus, zwergenähnlich, gnomenhaft, jedoch werden
sie niemals vollkommen menschengleich. Untereinander brauchen sie
scheinbar keine Sprache, um sich zu verständigen, denn über der
ganzen Szene liegt nur der Schleier dieser wunderbaren Harmonie.
Er glaubt zu träumen: das
ist nicht wahr!,...und schon hat er das Bild, die Szene gelöscht!
Der Hain ist nun wieder ein Streifen unkultivierten Bodens, der
mittlerweile etwas nähergerückt ist, denn er ist weitergegangen.
Für den Bruchteil einer Sekunde streift ihn die Ahnung, dass er
alleine ist, - aber auch das ist nicht wahr.
Die Zeit übergeht diesen
Einbruch wie selbstverständlich mit ihrem Kokon. Sicher ist, dass
auf die blasse Markierung in einem gewissen vorhersehbaren Abstand
die nächste folgt. Er ist nicht alleine. Automatisches Gehen, unter
Zwang, - und doch jederzeit aufhören können? Weiter....!
Ein leichtes Hungergefühl
schleicht sich in seine Gegenwart. Aber es ist ja alles da, man
braucht nur zuzugreifen! Das Wasser läuft einem im Munde
zusammen...aber er kann sich beherrschen. Gelernt ist gelernt!
Nachher. Morgen. Bald.
Aus dem Hain scheint nun
Lebendiges zu dringen. Zuerst ganz leise, dann immer lauter: Vokale,
Stimmen, Lachen... Das Lachen wird immer lauter, kommt auf ihn zu,
schwillt an, bläht sich zu einem Orkan des Lachens: es ist nur noch
Lachen! Siehe da: Stille! Eine Fläche der Lautlosigkeit., Ozean der
Ruhe!
Er spürt sich selbst kaum
mehr. Doch plötzlich ein Stolpern und er wäre beinahe gestürzt:
eine Minute liegt im Weg! Bedächtig und vorsichtig wird sie
aufgehoben und von allen Seiten betrachtet. (Minuten liegen ja
nicht alle Tage auf der Straße herum!) Die Minute ist ein seltenes
Exemplar, sie hat eine wunderbare Maserung, geheimnisvoll wie die
Ziffern einer nie gezählten Zahl, Buchstaben einer gesprochenen
Sprache. Er steckt sie in seine Tasche. Aber kaum ist dies
geschehen, löst sie sich einfach auf! Sie ist weg! (Aber das ist
nicht weiter beunruhigend, denn er hat sie ohnehin schon fast
vergessen!)
Die Straße beschreibt
einen Bogen und er wird nun immer langsamer, kommt kaum noch voran.
Es durchdringt ihn eine Überlegung, ob er auf dem richtigen Weg sei,
- aber der Weg führt ja doch nicht zum Ziel. Dumpfheit breitet sich
aus, Konturen verschwimmen seltsam. Er fühlt jeden Herzschlag wie
etwas Fremdes, ihm nicht Gehörendes. Erhört ihm zu, ungläubig und
gespannt auf den nächsten, der wie ein Gongschlag durch sein
Bewusstsein dröhnt. Schließlich – er weiß nun wirklich nicht
mehr, wie lange er schon unterwegs ist, ist es ihm nur noch möglich,
langsam und bedächtig einen Fuß vor den anderen zu setzen, winzige
Schritte nur noch zu machen. Er konzentriert sich darauf und wagt
gleichzeitig noch einmal, aufzublicken. Da sieht er neben sich, vor
sich und hinter sich unendlich viele Doppelgänger seiner selbst, die
wie Spiegelfiguren seiner eigenen Person just im Moment gerade
aufblicken. Er sieht ihnen in die Augen und merkt gleichzeitig, dass
er sich selbst in die Augen sieht. In diesem Moment versagen seine
Beine und die aller Kopien seiner selbst und sie bleiben alle stehen.
Er kann sich nicht mehr von der Stelle rühren und ist wie gelähmt.
Vor ihm tut sich ein schwarzer Graben auf, unendlich tief. Es gibt
nun kein Vor und Zurück mehr: er starrt abwechselnd in das Loch vor
sich und in sein eigenes Auge, das ihm milliardenfach anblickt. Wen?
Ihn? Wer? Er?
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