"So weilt Alles nur einen Augenblick und
eilt dem Tode zu. Die Pflanze und das Insekt sterben am Ende des
Sommers, das Thier, der Mensch, nach wenig Jahren: der Tod mäht
unermüdlich. Desungeachtet aber, ja, als ob dem ganz und gar nicht
so wäre, ist jederzeit Alles da und an Ort und Stelle, eben als wenn
Alles unvergänglich wäre. Jederzeit grünt und blüht die Pflanze,
schwirrt das Insekt, steht Thier und Mensch in unverwüstlicher
Jugend da, und die schon tausend Mal genossenen Kirschen haben wir
jeden Sommer wieder vor uns. Auch die Völker stehen da, als
unsterbliche Individuen; wenn sie gleich bisweilen die Namen
wechseln; sogar ist ihr Thun, Treiben und Leiden allezeit das selbe;
wenn gleich die Geschichte stets etwas Anderes zu erzählen vorgiebt:
denn diese ist wie das Kaleidoskop, welches bei jeder Wendung eine
neue Konfiguration zeigt, während wir eigentlich immer das Selbe vor
Augen haben. Was also dringt sich unwiderstehlicher auf, als der
Gedanke, daß jenes Entstehen und Vergehen nicht das eigentliche
Wesen der Dinge treffe, sondern dieses davon unberührt bleibe, also
unvergänglich sei, daher denn Alles und Jedes, was daseyn will,
wirklich fortwährend und ohne Ende da ist. Demgemäß sind in jedem
gegebenen Zeitpunkt alle Thiergeschlechter, von der Mücke bis zum
Elephanten, vollzählig beisammen. Sie haben sich bereits viel
Tausend Mal erneuert und sind dabei die selben geblieben. Sie wissen
nicht von Andern ihres Gleichen, die vor ihnen gelebt, oder nach
ihnen leben werden: die Gattung ist es, die allezeit lebt, und, im
Bewußtseyn der Unvergänglichkeit derselben und ihrer Identität mit
ihr, sind die Individuen da und wohlgemuth. Der Wille zum Leben
erscheint sich in endloser Gegenwart; weil diese die Form des Lebens
der Gattung ist, welche daher nicht altert, sondern immer jung
bleibt. Der Tod ist für sie, was der Schlaf für das Individuum,
oder was für das Auge das Winken ist, an dessen Abwesenheit die
Indischen Götter erkannt werden, wenn sie in Menschengestalt
erscheinen. Wie durch den Eintritt der Nacht die Welt verschwindet,
dabei jedoch keinen Augenblick zu seyn aufhört; eben so scheinbar
vergeht Mensch und Thier durch den Tod, und eben so ungestört
besteht dabei ihr wahres Wesen fort. Nun denke man sich jenen Wechsel
von Tod und Geburt in unendlich schnellen Vibrationen, und man hat
die beharrliche Objektivation des Willens, die bleibenden Ideen der
Wesen vor sich, fest stehend, wie der Regenbogen auf dem Wasserfall.
Dies ist die zeitliche Unsterblichkeit. In Folge derselben ist, trotz
Jahrtausenden des Todes und der Verwesung, noch nichts verloren
gegangen, kein Atom der Materie, noch weniger etwas von dem innern
Wesen, welches als die Natur sich darstellt. Demnach können wir
jeden Augenblick wohlgemuth ausrufen: "Trotz Zeit, Tod und
Verwesung, sind wir noch Alle beisammen!"
(zu finden in: Artur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung)
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