Reise durch Wirklichkeiten

Sonntag, 22. Januar 2023

Schopenhauer über den Tod

„Nach Allem inzwischen, was über den Tod gelehrt worden, ist nicht zu leugnen, daß, wenigstens in Europa, die Meinung der Menschen, ja oft sogar des selben Individuums, gar häufig von Neuern hin und her schwankt zwischen der Auffassung des Todes als absoluter Vernichtung und der Annahme, daß wir gleichsam mit Haut und Haar unsterblich seien. Beides ist gleich falsch: allein wir haben nicht sowohl eine richtige Mitte zu treffen, als vielmehr den höheren Gesichtspunkt zu gewinnen, von welchem aus solche Ansichten von selbst wegfallen. Ich will, bei diesen Betrachtungen, zuvörderst vom ganz empirischen Standpunkt ausgehn. – Da liegt uns zunächst die unleugbare Thatsache vor, daß, dem natürlichen Bewußtseyn gemäß, der Mensch nicht bloß für seine Person den Tod mehr als alles Andere fürchtet, sondern auch über den der Seinigen heftig weint, und zwar offenbar nicht egoistisch über seinen eigenen Verlust, sondern aus Mitleid, über das große Unglück, das Jene betroffen; daher er auch Den, welcher in solchem Falle nicht weint und keine Betrübniß zeigt, als hartherzig und lieblos tadelt. Diesem geht parallel, daß die Rachsucht, in ihren höchsten Graden, den Tod des Gegners sucht, als das größte Uebel, das sich verhängen läßt. – Meinungen wechseln nach Zeit und Ort; aber die Stimme der Natur bleibt sich stets und überall gleich, ist daher vor Allem zu beachten. Sie scheint nun hier deutlich auszusagen, daß der Tod ein großes Uebel sei. In der Sprache der Natur bedeutet Tod Vernichtung. Und daß es mit dem Tode Ernst sei, ließe sich schon daraus abnehmen, daß es mit dem Leben, wie Jeder weiß, kein Spaaß ist. Wir müssen wohl nichts Besseres, als diese Beiden, werth seyn“.

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