Reise durch Wirklichkeiten

Freitag, 4. September 2020

Zeitweise

Man müsse unbedingt ganz im Moment, im Hier und Jetzt leben, so höre ich immer wieder. Komischerweise verspüre ich in mir ein anderes Bedürfnis, das dieser fast zur Binse gewordenen Erkenntnis zuwider läuft. Und ich habe in jüngster Zeit etliche wissenschaftliche Aussagen dazu gehört. Zeit als Phänomen beschäftigt mich ja ohnehin. Ich weiß nicht, ob ich diese wissenschaftliche Sicht ganz korrekt wiedergeben kann. Doch sie entspricht dem, was ich bisher schon empfunden oder geahnt habe. Sie verstärkt meine Skepsis gegenüber dieser Gegenwartsorientiertheit, die einem immer angetragen wird. Diese Theorien überraschten mich mit einer Alltagszugewandtheit: Unser Gehirn bringt die Zeit fast nach Belieben zum Laufen und Stehen, - was man sich leicht im Selbstversuch vor Augen führen kann: z.b. wenn man bei einer Uhr mit Sekundenzeiger auf das Zifferblatt schaut, scheint dieser Zeiger im ersten Moment immer zu stehen. Das Gehirn baut auch Zeitsprünge ein: sehen Sie in den Spiegel und fixieren Sie erst das eine und dann das andere Auge. Sie werden nie eine Augenbewegung wahrnehmen. Das Gehirn trickst einen also aus und macht sich die zeitlichen Abläufe passend. Das tut es, um uns zu helfen, damit wir uns die wirklich wichtigen Bilder besser einprägen können. Für unsere Orientierung im Leben also, fürs Planen, Denken, Reden oder Handeln ist diese Vorstellung von Zeit sehr wichtig.
Und doch kann uns jeder Physiker vorführen, dass diese Vorstellung, die nahezu alle Kulturen teilen, falsch ist: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – laut Physik alles Quatsch. Einstein hat in seinen Relativitätstheorien versucht, das wahre Bild der Zeit zu zeichnen. Er sieht sie als eine von vier Dimensionen. (3X Raum, 1XZeit) Insofern müssen wir uns von der Idee der Gegenwart lösen. Denn wenn der Raum nicht das eine universelle Hier kennt, warum sollte es dann das eine universelle Jetzt geben? Es gibt so viele verschiedene Orte gleichzeitig. Auch wenn wir sie nicht sehen.Ähnlich ist das mit der Zeit.
Man kann sich die Zeit als zusätzliche Raumdimension vorstellen. Alle Momente, wie wir erleben, stehen nebeneinander. Unter Physikern heißt diese Vorstellung von der vollständig gegebenen Raumzeit „Block-Universum“. Alle Ereignisse, vom Beginn des Urknalls bis zur Endzeit, alles ist da. Wir aber erleben dieses Universum nicht als Ganzes, sondern scheibchenweise. Vergangenheit, Zukunft: alles da. Scheinbar. Jeder erlebt seine Einteilung: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ganz individuell geformt und passend gemacht! Z.b. unser Nachbarstern Alpha Centauri: wenn wir sein Bild empfinden können, ist es in diesem Moment bereits vier Jahre alt. Könnten wir auf Alpha Centauri sein, wären alle Ansichten der Erde auch schon 4 Jahre alt. Einstein sagt: Es gibt nicht die eine Aufteilung des Raum-Zeit-Blocks. Jeder formt seine Sicht der Gegenwart. Nur wegen der Geschwindigkeit des Lichts und der relativ kurzen Distanzen auf unserem Planeten entsteht die Illusion einer einzigen globalen Gegenwart.
Unser Geist ist erpicht auf die eine, fortschreitende Zeit, obwohl die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig existieren gleichzeitig ? Nun, es scheint dies unserem Gehirn entgegen zu kommen. Es hängt die einzelnen „Ausschnitte“ von Zeit wie in einem Film aneinander, wodurch die persönliche Raumzeit entsteht. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren aber gleichzeitig. Unser Gehirn hängt die verschiedenen Momente der Vergangenheiten über die Gegenwart zusammen und formt dadurch unsere Identität, der durch die Raumzeit führt. Alltag: Erinnerungen an die Zukunft gibt es bei uns nicht, nur ans Babystadium, an die Kindheit. Ein Gefühl einer Lebensreise entsteht in unserem Ich. In Wahrheit bewegt sich aber gar nichts.
Zeit lässt sich also nicht aufhalten und wir erleben dabei immer nur einen Bruchteil: Die Gegenwart. Den Moment in ihr sollten wir festhalten, predigten Viele, - auch ich. Wenn aber alle Zeit bereits existiert, könnten wir dann nicht unsere Perspektive ändern und vielleicht sogar in unsere Zukunft blicken? Ich breche hier ab und gestehe, dass mir immer nur Ahnungen, Andeutungen und bildhafte Zeichen möglich waren. Aber ich ahnte etwas von der Zeit, sofern mir so etwas wie ein Auslöser, ein Stimulus und eine Anregung dazu geboten wurde.

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