Reise durch Wirklichkeiten

Freitag, 21. September 2018

Hesse reloaded

Das Folgende habe ich tatsächlich gefunden, als Notiz, als Aufschrieb. Ob ich davon etwas auf irgend eine Art veröffentlichte? Ich weiß es nicht mehr, denn das Fundstück stammt aus dem Jahr 2002: 

Hätte sich jemand diesen vogelig dreinblickenden Mann mit dem Sonnenhut und der Nickelbrille lauthals mitgrölend auf einem Rockkonzert vorstellen können? Oder gar hemmungslos auf einer La Ola-Welle dahinwogend? Nein, mit den Massen hatte es der Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse überhaupt nicht. Er gab sich als überzeugter Individualist, als belesener Schöngeist und Eigenbrötler, der vor den Regungen großer Massen ein ständiges Misstrauen empfand, ja, dem vor ihnen regelrecht schauderte, ein Image, das er auch vor der breiten Öffentlichkeit hingebungsvoll pflegte. Just in seinem Todesjahr 1962 war es, als sich die Beatles anschickten, die Popmusik im heutigen Sinne zu einem Massenphänomen zu machen, nachdem Elvis diesbezüglich ja schon in den Fünfzigern Dämme gebrochen hatte.
Nein, irgendwo als kreischenden Fan im Publikum kann sich Hesse kaum jemand vorstellen. Aber vielleicht auf die Bühne, vor die Massen, da hätte der Mozart-Bewunderer hingepasst. Als eine Figur, nicht so harsch und spröde wie Bob Dylan, aber dafür poetisch verspielt wie Leonard Cohen. Als sanfter Erzähler und Verseschmied, der die Dinge des Lebens mit bildhaften Versen hätte sehr einprägsam und eingängig auf einen romantisch klingenden Punkt bringen können. Einer, der die Ausstiegsphantasien der Flower Power-Kinder - und die Weltfluchtutopien einer Hippie-Bewegung der sechziger und siebziger Jahre massenwirksam hätte bündeln und bei Konzerten auf sich vereinen können.
Und hat er sich nicht etwa als leiser Apologet des Drogengebrauchs missverstehen lassen? Nicht umsonst hat ihn der Pop Art-Pionier Andy Warhol in seinem berühmten Porträt ja als eine Art umnebelten Kiffer abgebildet. War sein Held Harry Haller im berühmten Roman „Der Steppenwolf“ auf seiner Reise nach Innen nicht an diversen künstlichen Paradiesen vorbeigekommen, hatte dabei ein Panoptikum der phantastischen Möglichkeiten geschaut und die Abenteuer der anarchistischen Entgrenzung geprobt? Und hat dieser Harry Haller etwa das Angebot des Musikers Pablo abschlagen können, aus einer vergoldeten Dose eine Prise weißen Pulvers zum Schnupfen zu sich zu nehmen?
Ach ja, für die Hippiegeneration war ja alles so eindeutig, für sie war Hesse ein Popstar, mochten die verknöcherten Philologen in Europa noch so sehr vor der Vereinnahmung und Vereinfachung der Gedankenwelt des Pfarrersohns aus Calw warnen oder ihn in die Nähe der Trivialliteratur rücken. 1970, 8 Jahre nach dem Tod des 84 Jahre alt gewordenen Autors, deutete der Drogenpapst und Hochschullehrer Timothy Leary den „Steppenwolf" als „Meisterführer zum psychedelischen Erlebnis" und empfahl, „vor deiner LSD-Sitzung den Steppenwolf als ein unschätzbares Lehrbuch" zu lesen. Der „wirkliche“ Hesse hat zwar öfters mit dem Dämon Alkohol gekämpft. Doch über weitere Drogenexzesse ist nichts bekannt.
Schon zu Beginn der sechziger Jahre waren seine Bücher in den USA zum Bestseller geworden. Eine ganze Generation schien plötzlich Hesse zu lesen, seine Werke lieferten das Modell eines Selbsterfahrungstrips. Und so, wie Hermann Hesse sich selbst und seinen Harry Haller zeichnete, als Außenseiter des bürgerlichen Welt, als schöpferischer Rebell gegen die Welt des Festgefügten und Selbstverständlichen, so wollte in dieser Zeit ohnehin jeder sein. Von den frühesten Werken wie etwa dem Schülerroman „Unterm Rad“, über den Landstreichererzählung „Knulp“ bis hin zum „Steppenwolf“ hatte Hesse das Aufbegehren in der Figur des einsamen Nonkonformisten gezeichnet. Hinzu kam seine Vorliebe für fernöstliches Gedankengut, das unter anderem ganz direkt in Werke wie „Siddharta“ und „Die Morgenlandfahrer“ eingeflossen war und nun den Selbsterfahrern in aller Welt die willkommene Anleitung für die eigene Nabelschau lieferte. Selbst der sexuellen Emanzipation konnte der im pietistischen Milieu aufgewachsene Hesse ein paar – aus heutiger Sicht harmlose - Bilder und Phantasien liefern: so lässt sich Harry Haller als Steppenwolf in eine Menage a trois mit seinem weiblichen Gegenbild Hermine und der Prostituierten Maria ein, der der Musiker Pablo noch einiges an zusätzlicher Würze verleiht. Aber auch der einer Kommune gleichenden Gemeinschaft von Gleichgesinnten lieferte der schwäbische Egomane so manches Modell: In seinem unter Pseudonym veröffentlichten Roman „Demian“ trifft sich eine Gruppe Suchender sehr verschiedener Art, zu der, wie Hesse schreibt, „Astrologen und Kabbalisten, auch ein Anhänger des Grafen Tolstoi, und allerlei zarte, scheue, verwundbare Menschen, Anhänger neuer Sekten, Pfleger indischer Übungen, Pflanzenesser und andere“ gehören. Dominiert wird diese Gruppe von einer erotisch anziehenden „Frau Eva“, was dem Titelhelden so manches in verquasten Bildern ausgemalte Begehren aufbürdet. Modell für die Hippie-Kommune? Oder gar Vorläufer eines Swingerclubs? Hesse seinerseits hatte sich zeitweise zu einer Monte Verita bei Ascona ansässigen Gruppe von nackten Naturmenschen der damaligen Alternativkultur hinzugezogen gefühlt, die dem bürgerlichen Dasein mit sexueller Ausschweifung, langen Haaren und Jesus-Sandalen trotzten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen