Als
einen tollen Glücksfall können wir auffassen, dass es einen
gewissen Galsan Tschinag gibt. Der Mann wurde 1944 als Sohn einer
tuwinischen Familie in der Mongolei geboren. Seine Tante war
Schamanin. Mit einem Diplom studierte er Germanistik im Leipzig und
kehrte anschließend in die Mongolei zurück, um zu unterrichten.
1976 wurde ihm noch in der damaligen Sowjetunion die Lehrerlaubnis
wegen politischer Unzuverlässigkeit entzogen, woraufhin er
zahlreiche Arbeiten für eine Gewerkschaftszeitung übernahm. Er
übersetzte aus dem Deutschen auch Autoren wie Kurt Tucholsky,
Heinrich Mann oder Erwin Strittmatter. 1980 wurde bei ihm ein
schweres Herzleiden festgestellt, das er nur mit viel Sport und
schamanischen Übungen einigermaßen überwinden konnte. In einer
Karawane führte er 1995 sein Volk von Sibirien aus in die Mongolei,
was ihm wohl endgültig einen herausragenden Status in seinem Volk
verschafft hat: er wurde Häuptling. Heute
lebt er, wie in Wikipedia steht, „den größten Teil des Jahres in
der Landeshauptstadt Ulan Bator gemeinsam mit seiner knapp
20-köpfigen Familie und verbringt viel Zeit auf Lesereisen im
deutschsprachigen Ausland. Je ein Drittel des Jahres verbringt er in
seiner Residenz in Ulan Bator, in Europa und in der
westmongolischen Steppe bei seinem tuwinischen Stamm. Er schreibt
seine Romane, Erzählungen und Gedichte meist auf Deutsch, weshalb er
als deutschsprachiger Migrantenschriftsteller gesehen wird. Seine
Erzählungen wurden auch in zahlreiche andere Sprachen übersetzt“.
In seinem 1994 erschienenen ersten Roman „Der blaue Himmel“, der
mir immer zur Hand ist, erzählt er sehr feinfühlig vom nomadischen
Leben der Tuwa. Wir werden mit hinaus genommen in das Leben in der Steppe und erfahren alltäglicheZusammenhänge, aber wir stoßen auch in eine große spirituelle Dimension vor. Mittlerweile hat Galsan Tschinag eine lange Reihe von
Veröffentlichungen (Wikipedia nennt allein 32 Romane, Erzählungs-
und Gedichtbände). Sein literarisches Thema ist die kulturelle
Überlieferung und das gegenwärtige alltägliche Leben seines
Volkes. Er ist Träger zahlreicher literarischer Preise, darunter der
Adelbert-von Chamisso-Preis. Als Wanderer zwischen den Welten
schreibt er 6 Monate im Jahr in seiner Wohnung in Ulan Bator. Drei
Monate verbringt er auf Lesereisen im Westen. Die restlichen drei
Monate lebt er in den Jurten seiner Sippe in der mongolischen Steppe.
Wer ihn schon einmal im Fernsehen gesehen hat, wird wohl neben seiner
überragenden Erzählkunst auch über seinen Humor gestaunt haben,
was auch Spuren in seiner Literatur hinterlassen hat. Amazon führt
als seinen bisher letzten Titel „Das andere Dasein“ auf, das eine
Art Liebesgeschichte ist und uns einen wertvollen Einblick in andere
Lebensformen gewährt. Dies nachzuvollziehen, mag zunächst eine
kleine Schwierigkeit bedeuten. Doch das Buch entlohnt einen (wie
nahezu alle anderen Bücher von Tschinag) für die Überwindung
dieser scheinbaren Hürde reichlich. Galsan Tschinag ist Häuptling,
Schriftsteller, Gelehrter und Schamane, ein Könner der deutschen
Sprache und ein Kenner der deutschen Kultur. Gleichzeitig ist sein
Spezialgebiet naturgemäß die Kultur der Tuwa aus der Mongolei. Sich
selbst sieht er als „einen deutschen Schriftsteller mit
mongolischem Gesicht“. Goethe ist aus seiner Sicht der größte
„deutsche Schamane“.
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