Reise durch Wirklichkeiten

Sonntag, 15. März 2015

Galsan Tschinag

Als einen tollen Glücksfall können wir auffassen, dass es einen gewissen Galsan Tschinag gibt. Der Mann wurde 1944 als Sohn einer tuwinischen Familie in der Mongolei geboren. Seine Tante war Schamanin. Mit einem Diplom studierte er Germanistik im Leipzig und kehrte anschließend in die Mongolei zurück, um zu unterrichten. 1976 wurde ihm noch in der damaligen Sowjetunion die Lehrerlaubnis wegen politischer Unzuverlässigkeit entzogen, woraufhin er zahlreiche Arbeiten für eine Gewerkschaftszeitung übernahm. Er übersetzte aus dem Deutschen auch Autoren wie Kurt Tucholsky, Heinrich Mann oder Erwin Strittmatter. 1980 wurde bei ihm ein schweres Herzleiden festgestellt, das er nur mit viel Sport und schamanischen Übungen einigermaßen überwinden konnte. In einer Karawane führte er 1995 sein Volk von Sibirien aus in die Mongolei, was ihm wohl endgültig einen herausragenden Status in seinem Volk verschafft hat: er wurde Häuptling. Heute lebt er, wie in Wikipedia steht, „den größten Teil des Jahres in der Landeshauptstadt Ulan Bator gemeinsam mit seiner knapp 20-köpfigen Familie und verbringt viel Zeit auf Lesereisen im deutschsprachigen Ausland. Je ein Drittel des Jahres verbringt er in seiner Residenz in Ulan Bator, in Europa und in der westmongolischen Steppe bei seinem tuwinischen Stamm. Er schreibt seine Romane, Erzählungen und Gedichte meist auf Deutsch, weshalb er als deutschsprachiger Migrantenschriftsteller gesehen wird. Seine Erzählungen wurden auch in zahlreiche andere Sprachen übersetzt“.
In seinem 1994 erschienenen ersten Roman „Der blaue Himmel“, der mir immer zur Hand ist, erzählt er sehr feinfühlig vom nomadischen Leben der Tuwa. Wir werden mit hinaus genommen in das Leben in der Steppe und erfahren alltäglicheZusammenhänge, aber wir stoßen auch in eine große spirituelle Dimension vor. Mittlerweile hat Galsan Tschinag eine lange Reihe von Veröffentlichungen (Wikipedia nennt allein 32 Romane, Erzählungs- und Gedichtbände). Sein literarisches Thema ist die kulturelle Überlieferung und das gegenwärtige alltägliche Leben seines Volkes. Er ist Träger zahlreicher literarischer Preise, darunter der Adelbert-von Chamisso-Preis. Als Wanderer zwischen den Welten schreibt er 6 Monate im Jahr in seiner Wohnung in Ulan Bator. Drei Monate verbringt er auf Lesereisen im Westen. Die restlichen drei Monate lebt er in den Jurten seiner Sippe in der mongolischen Steppe. Wer ihn schon einmal im Fernsehen gesehen hat, wird wohl neben seiner überragenden Erzählkunst auch über seinen Humor gestaunt haben, was auch Spuren in seiner Literatur hinterlassen hat. Amazon führt als seinen bisher letzten Titel „Das andere Dasein“ auf, das eine Art Liebesgeschichte ist und uns einen wertvollen Einblick in andere Lebensformen gewährt. Dies nachzuvollziehen, mag zunächst eine kleine Schwierigkeit bedeuten. Doch das Buch entlohnt einen (wie nahezu alle anderen Bücher von Tschinag) für die Überwindung dieser scheinbaren Hürde reichlich. Galsan Tschinag ist Häuptling, Schriftsteller, Gelehrter und Schamane, ein Könner der deutschen Sprache und ein Kenner der deutschen Kultur. Gleichzeitig ist sein Spezialgebiet naturgemäß die Kultur der Tuwa aus der Mongolei. Sich selbst sieht er als „einen deutschen Schriftsteller mit mongolischem Gesicht“. Goethe ist aus seiner Sicht der größte „deutsche Schamane“.  

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