Ein Durchgang durch Realitäten aus meiner Sicht - Blog von Ulrich Bauer (Ergänzt ubpage.de)
Samstag, 23. September 2023
Alle (Schopenhauer-Text)
"So weilt Alles nur einen Augenblick und eilt dem Tode zu. Die Pflanze und das Insekt sterben am Ende des Sommers, das Thier, der Mensch, nach wenig Jahren: der Tod mäht unermüdlich. Desungeachtet aber, ja, als ob dem ganz und gar nicht so wäre, ist jederzeit Alles da und an Ort und Stelle, eben als wenn Alles unvergänglich wäre. Jederzeit grünt und blüht die Pflanze, schwirrt das Insekt, steht Thier und Mensch in unverwüstlicher Jugend da, und die schon tausend Mal genossenen Kirschen haben wir jeden Sommer wieder vor uns. Auch die Völker stehen da, als unsterbliche Individuen; wenn sie gleich bisweilen die Namen wechseln; sogar ist ihr Thun, Treiben und Leiden allezeit das selbe; wenn gleich die Geschichte stets etwas Anderes zu erzählen vorgiebt: denn diese ist wie das Kaleidoskop, welches bei jeder Wendung eine neue Konfiguration zeigt, während wir eigentlich immer das Selbe vor Augen haben. Was also dringt sich unwiderstehlicher auf, als der Gedanke, daß jenes Entstehen und Vergehen nicht das eigentliche Wesen der Dinge treffe, sondern dieses davon unberührt bleibe, also unvergänglich sei, daher denn Alles und Jedes, was daseyn will, wirklich fortwährend und ohne Ende da ist. Demgemäß sind in jedem gegebenen Zeitpunkt alle Thiergeschlechter, von der Mücke bis zum Elephanten, vollzählig beisammen. Sie haben sich bereits viel Tausend Mal erneuert und sind dabei die selben geblieben. Sie wissen nicht von Andern ihres Gleichen, die vor ihnen gelebt, oder nach ihnen leben werden: die Gattung ist es, die allezeit lebt, und, im Bewußtseyn der Unvergänglichkeit derselben und ihrer Identität mit ihr, sind die Individuen da und wohlgemuth. Der Wille zum Leben erscheint sich in endloser Gegenwart; weil diese die Form des Lebens der Gattung ist, welche daher nicht altert, sondern immer jung bleibt. Der Tod ist für sie, was der Schlaf für das Individuum, oder was für das Auge das Winken ist, an dessen Abwesenheit die Indischen Götter erkannt werden, wenn sie in Menschengestalt erscheinen. Wie durch den Eintritt der Nacht die Welt verschwindet, dabei jedoch keinen Augenblick zu seyn aufhört; eben so scheinbar vergeht Mensch und Thier durch den Tod, und eben so ungestört besteht dabei ihr wahres Wesen fort. Nun denke man sich jenen Wechsel von Tod und Geburt in unendlich schnellen Vibrationen, und man hat die beharrliche Objektivation des Willens, die bleibenden Ideen der Wesen vor sich, fest stehend, wie der Regenbogen auf dem Wasserfall. Dies ist die zeitliche Unsterblichkeit. In Folge derselben ist, trotz Jahrtausenden des Todes und der Verwesung, noch nichts verloren gegangen, kein Atom der Materie, noch weniger etwas von dem innern Wesen, welches als die Natur sich darstellt. Demnach können wir jeden Augenblick wohlgemuth ausrufen: "Trotz Zeit, Tod und Verwesung, sind wir noch Alle beisammen!"x
(zu finden in: Artur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung)
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"So everything lingers only for a moment and hastens to death. The plant and the insect die at the end of summer, the animal, the human being, after a few years: death mows tirelessly. Nevertheless, yes, as if it were all over If it were not so, everything is always there and in the right place, just as if everything were imperishable. Plants are always green and blooming, insects are buzzing, animals and humans stand there in indestructible youth, and we have the cherries that have been enjoyed a thousand times before us again every summer. The peoples also stand there as immortal individuals; even if they change their names from time to time; even their doings, doings and suffering are always the same; even if history always pretends to tell something different: because this is like the kaleidoscope, which shows a new configuration with every turn, while we actually always have the same thing in front of our eyes.So what is more irresistible than the thought that this coming into being and passing away does not affect the actual essence of things, but this of it remain unaffected, therefore be immortal, therefore everything and everything that wants to exist is really continuously and without end there. Accordingly, at any given time, all the animal species, from the gnat to the elephant, are complete. They have already renewed themselves thousands of times and have remained the same. They do not know of others of their kind who lived before them or will live after them: it is the species which lives at all times, and, conscious of its immortality and of their identity with it, the individuals are there and in good spirits. The will to live appears in endless presence; because this is the form of life of the species, which therefore does not age, but remains ever young. Death is to them what sleep is to the individual, or what the wink is to the eye, by the absence of which the Indian gods are known when they appear in human form. How the world disappears through the onset of night, yet never ceases to be for a moment; just as apparently does man and beast perish through death, and just as undisturbed does their true nature continue to exist. Now imagine that alternation of death and birth in infinitely rapid vibrations, and you have before you the persistent objectification of the will, the enduring ideas of beings, standing firm, like the rainbow on the waterfall. This is temporal immortality. As a result, despite thousands of years of death and decay, nothing has been lost, not an atom of matter, still less something of the inner being that presents itself as nature. Accordingly, we can cheerfully exclaim at any moment: "Despite time, death and decay, we are all still together!"
(to be found in: Artur Schopenhauer, The World as Will and Representation)
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