Reise durch Wirklichkeiten

Mittwoch, 30. Dezember 2015

Paritätische Wohlfahrt

Ich lese, dass der Paritätische Wohlfahrtsverband in Gestalt seines Verbandspräsidenten Ulrich Schneider der Bundesregierung Tricksereien bei der Festlegung der Hartz 4-Sätze vorgeworfen haben soll. Ich weiß natürlich und kriege das öpfter mit, dass der Satz nirgendwo hinreicht und die Menschen möglichst klein macht, - trotz „fordern und fördern“. Es ist natürlich dies auch eine Folge der gewaltigen Distanz von Lebenswelten. Auf der einen Seite wohlbestallte Politiker, die sich vom schlecht und unterbezahlten Fahrdienst von einem Ort zum andern fahren lassen und eine Aura der Macht um sich verbreiten. Auf der anderen Seite der kleine Hartz4-Empfänger, der sein Fahrrad sattelt, um unter Mitnahme von möglichst wenig Gepäck halbwegs schadlos irgendwohin zu kommen (Regen? Winter? Eis?...). Der Politiker hat ein Heer von Assistenten und anderen willfährigen Kofferträgern um sich, denen er stets dominant voraus geht und das ihm jeden Wunsch von den Lippen abliest. Der „Hartzer“ muss sich um jeden Scheis selbst kümmern und verbringt einen guten Teil seiner Zeit damit, Sonderangebote wahrzunehmen oder sonstwie zum günstigsten Angebot in unserer Angebotsorientierten Gesellschaft zu kommen. Natürlich schaut er „Unterschichtenfernsehen“, gelegentlich lässt er aber auch eine Dokumentation nicht aus, die etwas mit seiner Lebenswelt zu tun hat. Im Grunde sind sie beide Menschen, der Hartzer und der Politiker, doch ihre Lebens- und Sinnwelt trennt sie ganz entscheidend in Oben und Unten. Dass man auf diese Bahn einer fiktiven Gleichheit einbiegen kann, weil Konzerne das auf Kosten des Staates so wollen, kommt den Politikern nur dann in den Sinn, wenn es das Wahlkampfkonzept erlaubt. Darüber sind auch für Politmanager Hartzer nur „Kostenfaktoren“, Teil eines brachliegenden Humankapitals, das man irgendwie halt im Griff behalten will, indem man es mit tausend Kniffen austrickst.
Das Bundessozialministerium widersprach jüngst der Darstellung des Verbands und betonte die Rechtmäßigkeit der Berechnungsgrundlage, die sogar vom Verfassungsgericht überprüft worden war. Seit der Neuberechnung 2011 werden die Regelsätze unter Berücksichtigung von Inflation und Nettolohnentwicklung jedes Jahr angepasst. Schneider forderte Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) auf, diese Praxis aus der Zeit der Vorgängerregierung zu korrigieren. "Es ist schon mehr als enttäuschend, dass auch Frau Nahles diese Tricksereien übernimmt, gehörte sie doch vor ihrer Berufung zur Arbeitsministerin zu den Hauptkritikerinnen der Methoden ihrer Vorgängerin", kritisierte Schneider. Das von Nahles geführte Sozialministerium verwies auf Anfrage auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Jahr: Darin hätten die Karlsruher Richter das Berechnungsmodell bestätigt und dem Gesetzgeber ausdrücklich einen "Entscheidungsspielraum" bei der Einschätzung des notwendigen Bedarfs zuerkannt, erklärte eine Ministeriumssprecherin. Die Vorgaben des Gerichts würden auch bei den künftigen Bedarfsermittlungen berücksichtigt. Das Bundesverfassungsgericht hatte im September 2014 die Berechnungsgrundlagen für die Regelsätze als "derzeit noch" verfassungsgemäß eingestuft. Das Gericht hatte den Gesetzgeber aber auch aufgefordert, einzelne Leistungen auch schon vor der anstehenden Neuermittlung des Regelsatzes anzupassen.

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