Reise durch Wirklichkeiten

Dienstag, 4. August 2020

Reisen

Ob sie jetzt alle weg sind? Auf Reisen? Wir erfahren etwas über die Welt und uns. Doch das setzt auch eine gewisse Neugier voraus. Ein Bestreben, sich von den allgemeinen Trampelpfaden abzusetzen in Richtung auf etwas Individuelles. Blöd nur, dass sich das inzwischen viele derer versprechen, die etwas von sich halten und die es sich leisten können. Ja, das Reisen selbst ist längst zu einem Statussymbol geworden. Waren im 17. , 18., 19. und 20. Jahrhundert Reisen noch einer gewissen gesellschaftlichen Schicht vorbehalten, so ist das Genre inzwischen zum Massentourismus geworden, das Versprechen einer individuellen Erweiterung des Horizonts und unverbindlichen Bespassung ist vervielfältigt – was sich unter anderem in der Masse der verschiedenen, für jeweilige Zielgruppen abgefassten Reiseführer zeigt, die sich an ein mit einer gewissen Neugier ausgestattetes Publikum wendet. Ihr Hedonismus scheint nur jeweils schichtenspezifische Ausprägungen anzunehmen.
Die Masse der Urlaubsreisenden freilich scheint sich mit dem Aufsuchen verschiedener allgemein anerkannter Sehenswürdigkeiten“ zu bescheiden, die ein längst sozialisiertes und an finanzielle Leistungsfähigkeit geknüpftes Begehren einzulösen versprechen. Die Suche nach dem „Authentischen“ und „Ursprünglichen“ ist da zu einer massenhaften Tätigkeit geworden. Dadurch etwas über die Welt erfahren, ein Bewusstsein ihrer Vielfalt zu erlangen, unsere Grenzen zu überschreiten, könnte dahinter stehender Wunsch, ein Begehren und ein gewisses Bedürfnis sein, das dahinter aufscheint. Es gilt, Aufklärung über „die Welt“ erlangen, gerade in Zeiten einer ungezügelten Globalisierung. Pech, dass das aber viele wollen, das all die Lehrer dieser Welt, besonders die aus Mitteleuropa, von diesem Bedürfnis getrieben sind. Ich ließ mich von dem Bedürfnis treiben, mich durch Zusammenhänge, die ich bisher nicht kannte, zu bewegen. Ihre allgemeine gesellschaftliche „Relevanz“, ihre Historie, ihren Ort im größeren Zusammenhang erschloss ich mir meist nebenher oder im ruhigen Rückblick. Meist mit den wichtigsten Fakten ausgestattet, konnte ich das Anderssein dieser Gegenden in jeder Hinsicht genießen.
Dass man am Ende am selben Buffet im Hotel steht, dass man sich am Flughafen einreiht in die Masse der Wartenden, dass man sich im Angesicht gewisser „Sehenswürdigkeiten“ gegenseitig auf die Füße tritt, nahm ich hin als Teilnehmer einer Massenkultur, als derjenige, der eintaucht in Zusammenhänge, mit denen er ansonsten nicht befasst ist. Nun hätte die noch nicht zurück liegende Virus- Krise vielleicht ein Bewusstsein dessen befördern können, über den Zweck von Reisen nachzudenken und ihre gesellschaftlichen Kosten zu bedenken, ihre „Notwendigkeiten“ neu abzuwägen und ihre Auswirkungen besser einzuschätzen. Ziele? Dahin gehen, wo man bisher noch nicht war. Dies kann womöglich auch im eigenen Land, in der unmittelbaren Umgebung liegen. Das Exotische, das Anregende und schöne dort neu kennen zu lernen und auch dadurch etwas über sich selbst zu erfahren, könnte ein neues Ziel sein. Natur und Mensch im Wechselspiel. Ob wir das in unserer Umgebung verstanden haben? Ob sich hier auch neue Horizonte auftun könnten? In der Wahrnehmung von gesellschaftlichen, aber auch geographischen Zusammenhängen? Ob der Strand der richtige Ort für die Erfahrung von „Sommerfrische“ ist oder ob er diejenige Entspannung verspricht, die der allgemeine Mensch der Industriegesellschaften zur Wiederherstellung seiner Arbeitskraft braucht? Ob es sich am Meer anders lebt als mitten im Land? Auch unter Gesichtspunkten der Ernährung? Ob es in der Wüste anders ist als in der Großstadt? In der „Provinz“ anders als dort, wo man den Puls der Zeit vermutet? Seine Umgebung besser verstehen oder eine neue Sensibilität ihr gegenüber aufbringen, könnte das nicht auch ein Beispiel für Horizonterweiterung sein? „Overtourism“. Schon sprachlich ein Beispiel für globalisierte Bewegungsformen. Ob die Kosten der Verkehrstechnologie erhöht werden sollten? Das Fliegen teurer machen? Wem das dann wieder zugute kommt? Denjenigen, die es sich dann immer noch leisten können? Bisherige Formen des Tourismus neu bedenken? Beispielsweise auf Kreuzfahrten können wir unter großen Kosten für die Umwelt wohl nicht viel über Länder und Menschen erfahren, vielleicht aber einiges „über das Meer“. Ob es dazu auch eine daran angepasste Neugier geben muss? Ob die sich nicht in gesellschaftlichen Ritualen der Unterhaltung erschöpfen darf, wie das auf solchen Dampfern gang und gäbe zu sein scheint? Ob so etwas auch mehr Zeit bräuchte im Unterschied zum industriell verwertbar gemachten schnellen und hektischen „Sightseeing“? Sich einlassen auf etwas anderes als neue Reiseform? Eine „Reise durch Wirklichkeiten“ wagen?

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