Reise durch Wirklichkeiten

Freitag, 16. Oktober 2015

Literatur und ihre Auskenner(innen)

In Frankfurt ist Buchmesse, wozu mir folgendes einfällt: Die Literatur könnte ein sehr probates Mittel sein, um sich in andere Köpfe, andere Weltsichten, andere Gefühls- und Sinnwelten hinein zu denken. Möglicherweise ist ein solches Einüben von Empathie sogar eines ihrer Hauptanliegen. Blöd nur, dass wir uns Literatur von professionellen Kritikern und Auskennern empfehlen lassen, die jeden Bezug zur Einwirkung auf die eigene oder die Persönlichkeit anderer verloren haben. Sie sind Spezialisten wie alle anderen auch, wenden ihre einmal gewonnenen Maßstäbe auf wechselnde Objekte an und setzen ganz auf die Trennung von Kunst und Wirklichkeit. Das eine habe mit dem anderen nichts zu tun, so ihr strenges Diktum, das auch das der „gebildeten“ Bürgerlichkeit ist.
Und so kann es durchaus sein, dass auch Nazis und andere Gangster gewisse Literatur mochten, sie sogar bewunderten. In dieser Weltsicht gibt es nur ein „Gut gemacht“, „hat mich erreicht“, „berührt“, "ist langweilig" usw. Literaturkritiker sind Spezialisten, die möglichst viel in möglichst kurzer Zeit möglichst kompetent zu verarbeiten haben. Gelegentlich sind sie dann als sogenannte „Kundige“ auch in Jurys geladen und verleihen sich gegenseitig Preise, was eine zusätzliche Legitimation für sie und die von ihnen umgarnte Gesellschaft darstellt. Angesichts der schieren Masse der per Literatur „angebotenen“ Sinnwelten, verlangt der Kunde Leser nach einer Orientierung, die ihm die beruflich dazu aufgestellten Kenner liefern sollen: als eine Bewusstseinsware, die von den Checkern ja nach persönlichem Gusto abgelehnt oder in höchsten Tönen belobigt wird. Das liege in der Natur der Sache, so ihr Credo. Die Fernsehrunden legen Zeugnis davon ab, welchen Showeffekt solche Spiegelfechterei haben soll. Blöd nur, dass allzu vieles dabei nur im ungünstigen Sinne eitel wirkt. Im ungünstigen Sinne“? Ich höre schon die Einwände: "jeder Mensch ist doch eitel!", - muss eitel sein. Selbstdarstellung ist doch eine "Herausforderung" der Zeit! Bewusstseinsaristokraten wollen dargestellt sein, ihr Diktum fällt wie ein Spruch von Zeus vom Olymp.  
Ob da auch Interessen der Bewusstseinsindustrie ihren Einfluss haben? Die Mitglieder der sogenannten „Gruppe 47“, die sich im Jahr 1947 konstituiert hat und als Literaturkritiker Reich-Ranicki oder Walter Jens gegen Schriftsteller wie Günter Grass oder Uwe Johnson aufbot, hätte so etwas weit von sich gewiesen. Und doch hat sie einer weitgehend statischen Wiederaufbaugesellschaft das kritische Feigenblatt der einer scheinbar kritischen Hinterfragung geliefert.  

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