Reise durch Wirklichkeiten

Samstag, 22. Oktober 2022

Bilanz

Ich lese etwas über die Einstellungen der Jugend zur heutigen Politik in Deutschland und ich erinnere mich, wie das bei mir damals war. Ich hatte in der Schule diese freiheitliche Grundordnung jederzeit verteidigt, hatte ihr die besten Motive zugetraut und den politischen Alltag darauf bezogen. Ich kannte das Grundgesetz ganz genau. Erste und daraufhin heftige Zweifel keimten aber in mir, als ein bräsig adipöser Kanzler großspurig davon ausging, dass sich mit „Bimbes“ alles regeln ließe. „Bimbes“ war wohl ein provinziell gemütliches Wort, das für Geld (und damit eine ziemlich ungemütliche Härte) und den Umstand, dass Geld die Welt regiert, stand. Ich war bis dahin zu gutgläubig gewesen, hatte an eine freiheitliche Grundordnung unabhängig vom wirtschaftlichen Stand der Beteiligten geglaubt, ja, ich hatte mich sogar für ein Studium der Politikwissenschaft im Anschluss an das entschieden, was uns in der Schule als „Gemeinschaftskunde“ vorgesetzt worden war. Doch die Spendenaffäre samt dieser Aussagen eines Kanzlers, die dann später in die bewusste verneinung des Grundgesetzes mündete, versetzte mir einen herben Dämpfer. Der Glaube an eine freiheitliche Grundordnung, für die ich als junger Mann sogar lange Monate des Dienstes geopfert hatte hatte, bröckelte nun gewaltig. Als sich eine anderer Bundeskanzler dann später anlässlich einer Überschwemmung tatsächlich mit Gummistiefeln beim Wahlvolk profilierte, machte mich fertig. Er hatte zuvor schon einen „Basta“-Stil praktiziert, der mir wenig sympathisch war und wohl eher auf diejenigen Sphären des bürgerlichen Daseins zielte, die ansonsten von Werbeagenturen „bearbeitet“ wurden. Doch die Pointe war: Diese Werbeagenturen hatten längst Einzug ins Regierungshandeln gefunden. Die anschließende politische „Demobilisierung“ kombiniert mit einer meiner Einschätzung nach bewussten Täuschung des Wahlvolks legte sich anschließend wie Mehltau über mein Bewusstsein. Der nun generell obsiegende und alles rechtfertigende „Wohlstand“ mitsamt seines damit einher gehende Konsumterrors schien in dieser, mich umgebenden Staatsform, aufgegangen zu sein. Und heute? Scheinen Transparenz und innere Gerechtigkeit Werte zu sein, die sehr weit entfernt vom Faktischen zu sein scheinen. Die Jugend scheint (zu Recht!, wie ich meine) jeglichen Glauben an die Demokratie mit ihren im Ungefähren verlaufenden Untersuchungsmechanismen, mit ihrer Interessenpolitik, mit ihren gesellschaftlichen Abschottungen von Politik und Gesellschaft und allzu berechnet eingesetzten Langsamkeiten verloren zu haben. Sehr sichtbare Verkrustungen des Systems und die Routinen des Parteienstaats scheinen den politischen Alltag inzwischen zu beherrschen. Die Art, wie Minister und Abgeordnete während der Debatten scheinbar gleichgültig in ihre Smartphones daddeln, scheint mir da sehr verräterisch für eine innere Einstellung zu stehen. Es ist dies alles ein Geschäft geworden, in dem sich der Regierungsapparat in dicken Limousinen und abgeschottet von aller Alltäglichkeit zu seinen Sitzungen fahren lässt. Abgehobenheit in jeglicher Beziehung scheint dieses wichtigtuerische Personal zu kennzeichnen. Und doch: Diese Apologeten haben ja recht: Es ist vielleicht eine demokratische Möglichkeit, die anderen diesbezüglichen Versuchen womöglich weit voraus ist. Freilich sollte sich niemand darauf ausruhen, sondern bestrebt sein, das vermeintlich Gute besser zu machen. Da ist noch „viel Luft nach oben“.

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