Reise durch Wirklichkeiten

Dienstag, 20. Juni 2023

Frau und Mann

Es ist doch erst ein paar Tage her, dass die grellen Loblieder und Nachrufe auf Tina Turner in die Welt geschickt wurden. Nicht ausgespart wurden dabei die Kapitel, in denen sie sich gegen männlich gewalttätige Ansprüche gewehrt hat. Tapfer sei sie gewesen, tough, so hieß es. Und jetzt? Kommt eine prominente Band mutmaßlich mit ihren diesbezüglichen „Praktiken“ um die Ecke, was einen Skandal provoziert. Ihr hält man bei vielen noch rechtlich unbewiesenen Anwürfen oft den Mythos „Sex, Drugs & Rock‚n Roll“ zugute. Im Rückblick habe ich mich als Musikjournalist oft über derartige männliche Praktiken gewundert, als ich sie aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen habe. Seltsam fand ich auch, wie sich gewisse Frauen ob ihrer dabei sich ergebenden sexuellen Kontakte gebrüstet haben. Ich habe das aber leider zu oft unter dem Motto „andere Moralvorstellungen“ und „Toleranz“ für mich abgetan. Auch galt ich bald überall als Spezialist für „weibliche“ Rockmusik, was mich nicht gestört hat, weil es mir neben Kompetenzversprechen unter anderem zusätzliche Aufträge einbrachte. Mich interessierte vielleicht auch viel zu sehr die dahinter steckende Musik, etwa die einer Joni Mitchell, was mich wesentlich mehr umtrieb. Dass deren persönliche Biografie offenbar einige „Brüche“ aufwies, darüber war ich informiert, - mehr nicht. Es konnte mein musikalisches Interesse nicht überlagern. Unbewiesen, das alles. Überhaupt: Es wurde das ohnehin als der Preis dargestellt, den ein Künstler halt zu entrichten habe. Ich selbst war ohnehin mehr an der Substanz, an der Essenz orientiert, kaum am Umfeld solchen Schaffens (Der „Schlüssellochblick“ scheint gerade bei den Medien beliebt). Dass hinter gewissen Showbus-Konstellationen ein großes Problem der Rock- und Popszene steckte, war mir klar - und wurde mir später immer klarer. Ein nahezu kaufmännisch ausgerichtetes Auswahlverhalten („Casting“) und Gewalt gegen Frauen schien in der Rockmusikindustrie weithin völlig legitim. Es schien der Ausweis von „Prominenz“ und schon seit frühen Jahren eines „Dazu zu gehören“ zu sein. Gewisse Damen schienen so etwas auch noch zu loben und zu preisen: Trophäenkult. Mir kommt es im Rückblick so vor und es verwundert mich nicht, dass solche Praktiken aber kaum an bestimmten Punkten Halt machen. Dass so etwas bis zu Gewaltanwendungen jeglicher Art gehen kann, scheint mir bis heute eine nahezu logische Folge solchen Gebarens. Aktuelle Untersuchungen „männlichen“ Verhaltens in der Breite der Gesellschaft scheinen das noch zu stützen. Dass Übergriffigkeiten und Gewalt auf breite Akzeptanz stoßen, macht mich heute aber dann doch stutzig. Ob gerade die den Starkult so hingebungsvoll pflegende Rock- und Popmusikindustrie da ein Problem hat? Ein Sexismus-Problem? Ob gerade für sie „Me too“ notwendig wäre? Ob zu viele Leute gewisse Praktiken geschützt und gedeckt haben? Männliche Dominanz, auch in gewalttätiger Form, scheint da für „normal“ und in seiner Einseitigkeit von viel zu vielen Leuten als legitimer Ausdruck von „Sex, Drugs & Rock`n Roll“ gehalten zu werden.

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